Förderer:
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Frau Prof. Dr. Christa Rohde-Dachser und Herrn
Dr. Matthias von der Tann für die großzügige finanzielle Unterstützung.
Mitglieder:
Dipl. Psych. Steffen Elsner Mehringdamm 66 10961 Berlin Homepage | Prof. Dr. Tatjana Jesch Pädagogische Hochschule Freiburg Kunzenweg 21 79117 Freiburg Homepage |
Prof. Dr. Joachim Küchenhoff Praxis für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychoanalyse Hohe Winde-Straße 112 CH-4059 Basel Homepage Buch.Kultur | Dr. Helga Kremp-Ottenheym Mozartstr. 35 79104 Freiburg |
PD. Dr. Astrid Lange-Kirchheim Deutsches Seminar – Neuere Deutsche Literatur Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Platz der Universität 3 79085 Freiburg Homepage | Prof. Dr. Joachim Pfeifer Marie-Curie-Str. 8 79100 Freiburg Homepage |
Prof. Dr. Timo Storck Psychologische Hochschule Berlin Am Köllnischen Park 2 10179 Berlin Homepage | Dr. Petra Strasser Richard-Strauss-Str. 7 79104 Freiburg |
Organisation:
Kristina Wacker Friedrich-Ebert-Str. 16 01259 Dresden |
Beratende Mitglieder:
Prof. Dr. Achim Geisenhanslüke Johann Wolfgang Goethe-Universität Norbert-Wollheim-Platz 1 60629 Frankfurt | Prof. Dr. Dr. Rolf-Peter Warsitz Universität Kassel Arnold-Bode-Str. 10 34127 Kassel |
Prof. Dr. Walter Schönau van Moerkerkenlaan 26 NL-9721 TB Groningen | Dr. Christa Rohde-Dachser Colmarstr. 2 30559 Hannover |
Matthias von der Tann 8 Elsworthy Terrace London NW3 DR |
Nachruf auf Carl Pietzcker
Am 25. Februar 2024 ist Carl Pietzcker nach kurzer Krankheit verstorben. Wir trauern um ihn als Freund und Kollegen, der zusammen mit Johannes Cremerius, Frederick Wyatt und Wolfram Mauser unseren Arbeitskreis Literatur und Psychoanalyse gegründet hat. Bis kurz vor seinem Tod war er aktiv in unserem Arbeitskreis tätig, gab uns wichtige Impulse, bereicherte unsere Arbeit mit seinen kreativen Ideen und kritischen Einsichten. In wissenschaftlicher und menschlicher Hinsicht galt für ihn bis zuletzt die Überzeugung, dass man das Leben – zumal das des akademischen Lehrers – als unabschließbaren Lernprozess begreifen muss.
In seiner akademischen Tätigkeit war für ihn immer ausschlaggebend, geschichtliches Wissen in den Kontext gegenwärtiger Erfahrung zu rücken. Historische Erkenntnis war für ihn deshalb so wichtig, weil sie die Gegenwart erklären und begreifbar machen konnte. Man muss sich der Vergangenheit erinnern, um verantwortlich in der Gegenwart leben zu können: Diese Einsicht hat Carl Pietzckers Denken in mehrfacher Hinsicht geprägt. Sein Geburtsjahr 1936 fällt in die Zeit des Nationalsozialismus – erst allmählich wuchs bei ihm das Bewusstsein, dass zu den zentralen Aufgaben seiner Generation die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gehörte. Die Studentenbewegung von 1967/68 war für ihn ein entscheidender Anstoß, den Nationalsozialismus nicht nur als deutsches Verhängnis, sondern als geschichtliches Ereignis zu begreifen, dessen gesellschaftlichen, politischen und psychosozialen Ursachen man bis in die geheimen Verästelungen der menschlichen Psyche nachspüren muss.
Neben dem Studium der Deutschen Literaturwissenschaft, der Philosophie und des Sports bildete die Altphilologie einen Grundpfeiler seiner Ausbildung. Sie verschaffte ihm ein solides philologisches Rüstzeug, an dem sich seine späteren germanistischen Arbeiten messen lassen mussten. Er promovierte 1966 mit einer Arbeit über die Landschaft bei Vergil (die er auf einer griechischen Insel verfasst hatte). Die Utopie eines glücklichen Arkadien gehört sicher zum Desiderat seines wissenschaftlichen und persönlichen Lebens – wobei es ihm immer wichtig war, auch Gegensätze als Teil einer Dialektik mitzudenken. Die entschiedene Lebensbejahung, die für ihn zur existentiellen Grundeinstellung wurde, führte ihn wiederholt zu Albert Camus, von dessen »mediterranem Denken« er sich beeinflussen ließ: Die Liebe zum Leben (und zu den Menschen) ist wichtiger als ein wie auch immer gearteter metaphysischer Sinn des Lebens.
Nach seiner Promotion wurde er zunächst Assistent, dann Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Freiburg. Mit der Studentenbewegung begann das Nachdenken über die Ursachen des deutschen Faschismus und über die Konsequenzen, welche die Universitätslehre daraus ziehen sollte. Zusammen mit anderen Kollegen entwarf und erprobte er neue Seminarstrukturen, die einen Vorgriff auf aktuelle didaktische Paradigmen darstellen. Was man heute als handlungsorientierte Didaktik bezeichnet, sollte damals das kritische Bewusstsein der Studierenden schärfen und Hierarchien abbauen. Wie modern die beschrittenen Wege sind, zeigen neuere Einsichten in die Problematik des »Vermittlungsparadigmas« (also der reinen Vermittlung von Wissen) und in die Vorteile des »Problemlösungsparadigmas«, das die Studierenden als aktiv Handelnde versteht, die sich Lösungswege selbst erarbeiten müssen. Der didaktische Spürsinn, den Carl Pietzcker und seine Kollegen damals entwickelten, ist bis heute beispielhaft in einer Hochschullandschaft, die sich nur widerstrebend didaktischen Erfordernissen öffnet. Dieses didaktische Interesse führte auch zur jahrelangen Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Freiburg und zur Veranstaltung gemeinsamer Seminare, in denen sich Studierende beider Institutionen treffen konnten.
Ein entscheidender Ausgangspunkt blieb für Carl Pietzcker die Frage, wie Forschung und Lehre auszusehen hätten, die Studierende für die Gefahren totalitären Denkens und Handelns sensibilisieren können. Dass es neben der »engagierten Literatur« auch eine engagierte Literaturwissenschaft geben müsse, welche die kritische und bewusstseinserweiternde Funktion der Literatur ins Licht setzt, war ein Anspruch, den Carl Pietzcker mit vielen Anderen der 68er-Generation teilte. Die Befreiung von einseitig textimmanenten Ansätzen der Literaturinterpretation, die in der Nachkriegszeit dominierten, verband er mit psychoanalytischen Positionen, die die Brüche und Subtexte eines Werks besser erhellen konnten als herkömmliche formanalytische Verfahren. Mit psychoanalytischen Einsichten ließ sich z.B. der eklatante Widerspruch erklären, dass Brecht fast gleichzeitig kaisertreue patriotische Gedichte und gesellschaftskritische Lyrik verfasste, und daraus ließen sich Einsichten in die Struktur seines ganzen Werks ableiten. Die Lyrik des jungen Brecht stand auch im Zentrum von Pietzckers Habilitationsschrift, die er weitgehend im Alleingang verfasste: Es war die erste Schrift dieser Art, die sich des damals noch verpönten psychoanalytischen Begriffsinstrumentariums bediente. Die Entwicklung des jungen Brecht vom anarchischen Dichter zum marxistischen Gesellschaftskritiker aus literaturpsychoanalytischer Perspektive: kein Wunder, dass diese Arbeit im Jahr 1974 äußerst kontrovers aufgenommen wurde. Legendär wurde die Äußerung eines Rezensenten, der die Schrift als Irrtum auf hohem Niveau bezeichnete. Mit dieser Arbeit war der Grundstein zu einer vertieften und dauerhaften Beschäftigung mit Literatur und Psychoanalyse gelegt. In seiner Antrittsvorlesung versuchte Carl Pietzcker dann, ein literaturtheoretisches Konzept für den psychoanalytischen Umgang mit Literatur zu entwickeln.
Psychoanalyse war für Carl Pietzcker immer ein Instrument der Aufklärung des Menschen, mit dem sich seine »tote«, verdrängte Vergangenheit wiederbeleben ließ: Dies schien im Hinblick auf die deutsche Geschichte und angesichts des Schweigens, das sie umgab, von außerordentlicher Bedeutung zu sein. Noch im Jahr 1974 – also dem Jahr seiner Habilitationsschrift – gründete er zusammen mit anderen Kollegen den Arbeitskreis Literatur und Psychoanalyse, der bis heute weit über die Grenzen Freiburgs hinaus Beachtung findet. Freiburg hat sich seither zu einem Zentrum für literaturpsychoanalytische Forschung entwickelt: Die jährlichen Tagungen (im Wechsel finden große öffentliche und kleine nicht-öffentliche Tagungen nur für Referierende statt) sind zur festen Institution geworden, ebenso das Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, das seit 1981 regelmäßig erscheint.
Die Liste der Publikationen ist im Verlauf seines Professorenlebens lang geworden; ungewöhnlich ist darin die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur oder das verstärkte Interesse für Johann Peter Hebel, dem er in den letzten Jahren mehrere Aufsätze und Vorträge widmete. Wichtig ist, dass Carl Pietzcker die Grenzen der Universität immer wieder überschritten hat: in seiner Vortragstätigkeit im In- und Ausland, auch vor nicht-fachwissenschaftlichem Publikum, z.B. in der Kooperation mit dem Freiburger Theater. Durch sein Engagement bei den Freiburger Literaturtagen trat er in Kontakt mit vielen jungen Autorinnen und Autoren und vermied dadurch die Abkapselung der universitären Lehre vom aktuellen Literaturbetrieb. Zusammenarbeit lag ihm von Anfang an am Herzen. Bis zuletzt schickte er seine Manuskripte an zahlreiche Freundinnen und Freunde mit der Bitte um Korrektur und Kritik, bevor er sie publizierte. Ein dialogisches Verständnis von Wissenschaft war für ihn selbstverständlich.
Seine Begeisterungsfähigkeit war ansteckend; sie ließ darauf schließen, dass sich hier jemand nicht nur aus beruflicher Verpflichtung, sondern aus persönlicher Überzeugung engagierte: orientiert an den Traditionen der Aufklärung und an einer kritischen Theorie des Subjekts, immer noch von der Hoffnung getragen, dass die Menschen vernünftiger und die Gesellschaft gerechter werden können.
Wir erinnern uns an ihn in großer Dankbarkeit und in dem Bewusstsein, dass viele seiner Gedanken in unserem Arbeitskreis, bei unseren Tagungen und nicht zuletzt im Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse weiterleben werden.
Der Arbeitskreis Literatur und Psychoanalyse